Start » Zahlen & Fakten » Pflege bei Substanzkonsum
Substanzkonsum und Pflegebedürftigkeit
Ältere Menschen leiden, wie schon dargestellt, stärker unter den Auswirkungen eines problematischen Konsums von Alkohol und psychotropen Arzneimitteln. Daraus resultieren Symptome wie Gangunsicherheiten inkl. Stürzen, Zittern, Schwindel, Ängste, Depressionen, Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, Gewichtsverlust, Aggressivität, Vernachlässigung der Körperhygiene, Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme und Verwirrtheit. Diese Symptome können als typische Alterssymptome fehlgedeutet oder, bezogen auf Medikamente, auftretende Entzugssymptome fälschlicherweise als Bestätigung der Notwendigkeit der Einnahme („Rebound-Effekt“) missgedeutet werden (Lieb et al. 2008, Glaeske 2008, Schäufele 2009, Wolter 2011).
Grundsätzlich finden wir auch im Alter, wie in der Bevölkerung generell, dass Männer häufiger einen problematischen Konsum von Alkohol und Tabak und Frauen häufiger einen problematischen Gebrauch von Arzneimitteln aufweisen, allerdings mit Annäherungstendenzen der Geschlechter. Die berichteten Prävalenzen können nur grobe Schätzungen darstellen und berücksichtigen nicht die ungleiche Verteilung von Suchterkrankungen in bestimmten Bevölkerungsgruppen. Neben alten Menschen sind in den Bevölkerungsstudien z.B. Menschen in Institutionen ausgeschlossen. Schäufele (2009) weist darauf hin, dass die gefundenen Prävalenzraten das Ausmaß des problematischen Alkoholtrinkens im Alter möglicherweise unterschätzen, da in den Erhebungen bestimmte Gruppen, wie z.B. ältere Pflegebedürftige, unterrepräsentiert sind. Laut der neuesten Pflegestatistik (Statistisches Bundesamt 2015b) sind 2,6 Millionen Menschen in Deutschland laut Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) pflegebedürftig, davon sind 65 % Frauen. 83% der Pflegebedürftigen sind 65 Jahre und älter und 37 % 85 Jahre und älter. 71 % bzw. 1,86 Millionen Pflegebedürftige werden zu Hause versorgt.
Einige Studien geben Hinweise darauf, dass der Anteil Alkoholabhängiger in der stationären Altenhilfe im Vergleich zu älteren Menschen in Privathaushalten überdurchschnittlich hoch ist (Joseph et al. 1995a,b, Brennan 2005). In US-amerikanischen Studien lagen die Prävalenzen einer Alkoholabhängigkeit in stationären Pflegeeinrichtungen bei bis zu 26 % (Brennan 2005, Oslin et al. 1997, Joseph et al. 1995a,b). Weyerer & Zimber (1997) und Pittrow et al. (2002) belegen für Deutschland einen hohen Gebrauch von Benzodiazepinen in Altenpflegeeinrichtungen. Zwischen 15,6 % und 20 % der Bewohner nahmen Benzodiazepine ein, zum Teil über einen längeren Zeitraum. Wetterling & Schneider (2012) befassten sich mit älteren Menschen in stationärer psychiatrischer Behandlung und stellten fest, dass der Anteil der Heimbewohner unter den Medikamentenmissbrauchern gegenüber der Allgemeinbevölkerung etwa 3-fach erhöht ist.
Bedenklich stimmt, dass die Heimunterbringung einen besonderen Risikofaktor für die Verordnung von Psychopharmaka darstellt. So wurden nach Hach et al. (2004) 39% bis 48% von Heimbewohnern mit einer Pflegestufe eine sedierende Medikation verordnet. Der Anteil an ambulant versorgten Patienten lag in allen Pflegestufen dagegen mit 20% bis 29% deutlich niedriger (Abb. 1 und 2). Auch diese Verordnungsraten erscheinen jedoch hoch vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Risiken.
Abbildung 1: Verordnung von Psychopharmaka bei Pflegeheimbewohnern im Vergleich mit ambulant versorgten Personen mit oder ohne Pflegestufe (Quelle: Hach et al. 2004)
Abbildung 2: Verordnungen von sedierenden Psychopharmaka bei Pflegeheimbewohnern im Vergleich mit ambulant versorgten Personen mit und ohne Pflegestufe (Quelle: Hach et al. 2004)
Weyerer et al. (2006) zeigten bei den Erhebungen in 13 Mannheimer Pflegeheimen, dass die Prävalenz von Suchterkrankungen bei älteren Pflegebedürftigen mit 10 % deutlich über dem ihres Altersdurchschnitts liegt (25 % der Männer und 5 % der Frauen). Das Heimeintrittsalter lag bei den alkoholkranken Bewohnern im Durchschnitt bei 62 Jahren, dass der nicht alkoholkranken Bewohnern bei etwa 78 Jahren. Etwa 50 % der Bewohner mit einem missbräuchlichen Alkoholkonsum fielen durch aggressives und unkooperatives Verhalten gegenüber dem Pflegepersonal auf (in der Gruppe ohne Alkoholmissbrauch nur 25 %). Vergleichbare Ergebnisse zeigt auch die bundesweite Befragung von ambulanten und stationären Altenpflegeinrichtungen von Kuhn & Haasen (2012). Hier wurde der Anteil von Menschen mit einer Suchtproblematik von den Einrichtungen mit 14 % angegeben. Sowohl ambulant als auch stationär gaben 79,3 % der befragten Einrichtungen an, Personen mit Suchtproblemen zu betreuen. Zwei Drittel der Einrichtungen verfügten über keine festen Konzepte zur Betreuung von älteren Menschen mit Substanzproblemen und nur ein Viertel aller Einrichtungen hielten ihr Personal für ausreichend ausgebildet um Patienten mit Suchtproblemen helfen zu können. Die Möglichkeit, Kontakt zur Suchthilfe aufzunehmen um dort Unterstützung zu bekommen, wurde seitens der Pflege kaum wahrgenommen/genutzt.
Auch die Hamburgische Landesstelle für Suchtfragen führte eine Befragung in 501 Altenpflege- und 81 Suchthilfeeinrichtungen durch (Baumgärtner 2011). Hier bestätigten sich die Ergebnisse der Studien von Weyerer et al. (2006) und Kuhn & Haasen (2012). 86 % der Mitarbeitenden der Altenpflegeeinrichtungen und 78 % der Mitarbeitenden der Suchthilfeeinrichtungen waren der Meinung, dass sich unter den zu betreuenden Personen ältere Menschen mit einer Suchtproblematik befinden. Die Altenpflege ging davon aus, dass jeder Zehnte der von ihnen betreuten älteren Menschen betroffen ist und die Suchthilfe bezifferte den Anteil an suchtkranken Menschen, die mit altersbedingten Problemen konfrontiert sind, auf ebenfalls 10 %. Es wurde seitens der Altenhilfe angegeben, dass ein grundlegender Bedarf an Qualifizierungsmaßnahmen zu suchtspezifischen Fragestellungen sowie zum Umgang mit Betroffenen besteht. Die Altenhilfe schätzte mit 45 % und die Suchthilfe mit 43 % den Bedarf an Qualifizierungsmaßnahmen als groß oder sehr groß ein.
Behandlung älterer Menschen mit substanzbezogenen Störungen
Alkoholbezogene Störungen werden bei älteren Menschen aus verschiedenen Gründen seltener diagnostiziert. Sie sind in der Regel berentet und ein problematischer Alkoholkonsum ist dadurch weniger sichtbar (Le Roux 2016). Es besteht häufig eine Hemmschwelle auf Seiten des Hausarztes, konkret nach dem Alkoholkonsum zu fragen, auch weil die falsche Annahme besteht, ansonsten dem Betroffenen das letzte genussvolle Erleben zu nehmen Vielfach herrscht eine resignative Haltung gegenüber älteren Personen mit substanzbezogenen Störungen vor (Royal Collage of Psychiatrists 2011). Bei ihnen wird nach Diagnose einer substanzbezogenen Störung seltener als bei Jüngeren eine Behandlung empfohlen (Curtis et al. 1989). Hierfür gibt es aber keine sachliche Begründung. Zwar ist die Evidenz der Behandlungseffektivität Älterer aufgrund fehlender Studien geringer als bei Jüngeren. Allgemein wird aber von einer Wirksamkeit der Suchtbehandlung auch bei älteren Personen ausgegangen (Satre et al. 2003, Oslin et al. 2005, Lieb et al. 2008, Rumpf et al. 2009, NICE 2011). Am besten belegt ist der Nutzen der Kurzintervention (VaDoD 2009).
Auch konnte gezeigt werden, dass proaktive, einfache Interventionen, z.B. der einfache Rat, das Trinken zu beenden, bei Älteren besonders gute Erfolgsaussichten haben (Blow & Barry 2002, Fleming et al. 2002). Einige Veröffentlichungen beschreiben die Inhalte spezifisch für ältere Personen mit substanzbezogenen Störungen. Sie adaptierten intensivere Behandlungen (Quinten & Grönle-Jeuck 2002, Benshoff & Harrawood 2003, Voßmann & Geyer 2006), in denen typische Lebensbedingungen und Themen älterer Menschen (Vereinsamung, Verlusterlebnisse, veränderte Beziehungsgestaltung im Alter u.a.) berücksichtigt und eine klare und geregelte Tages- und Wochenstruktur sowie Möglichkeiten zur körperlichen, intellektuellen oder kreativen Beschäftigung geboten werden (Geyer et al. 2006). Eine nicht konfrontative Haltung und vermehrte Teilnahme an „peer-groups“ wurden als hilfreich beschrieben (Kashner et al. 1992). Jüngere Erfahrungsberichte befürworten eine gemeinsame Behandlung mit Gleichaltrigen (Quinten & Grönle-Jeuck 2002, Voßmann & Geyer 2006). Ältere Personen sind bislang in Behandlungen unterrepräsentiert. So waren 2010 nur 10,9% der in ambulanten Rehabilitationseinrichtungen des Fachverbandes Sucht behandelten Personen 61 Jahre und älter (Lange et al. 2011), von den stationären Patienten waren nur 7,2 % über 60 Jahre alt, darunter 3,2 % über 65 Jahre (Bachmeier et al. 2011). Ältere Personen mit alkoholbezogenen Störungen, die ambulanter oder stationärer Pflege (im Sinne der Pflegeversicherung) bedürfen, können in der Regel an Suchtbehandlungen, wie sie derzeit vorgehalten werden, nicht teilnehmen. Es besteht eine erhebliche Versorgungslücke.
Fazit
Bedingt durch die allgemein steigende Lebenserwartung und das Altern der geburtenstarken Jahrgänge, in deren bisheriger Lebensspanne der Konsum von Alkohol und die Einnahme von Medikamenten gesellschaftlich akzeptiert war, ist es heute schon zu einem quantitativen Anstieg von Suchterkrankungen in der Gruppe älterer Menschen gekommen (Gfroerer et al. 2003, O´Connell et al. 2003). Bezieht man die vom Statistischen Bundesamt prognostizierte Altersentwicklung der deutschen Bevölkerung ein (Steigerung von 19,3 Mio. Menschen über 60 Jahre in 1997 auf 28,6 Mio. in 2020), so wird deutlich, dass es sich hierbei um ein ökonomisch und gesellschaftlich relevantes Thema handelt.