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Wann spricht man von einer Alkoholabhängigkeit?

Im Jahre 1964 verabschiedete sich die Weltgesundheitsorganisation vom Suchtbegriff, hauptsächlich um dessen stigmatisierenden Effekt zu vermeiden, und ersetzte ihn durch den Begriff Abhängigkeit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Abhängigkeit als einen „seelischen, eventuell auch körperlichen Zustand, der dadurch charakterisiert ist, dass ein Mensch trotz körperlicher, seelischer oder sozialer Nachteile ein unüberwindbares Verlangen nach einer bestimmten Substanz oder einem bestimmten Verhalten empfindet, das er nicht mehr steuern kann und von dem er beherrscht wird.“

Es gibt zwei Klassifikationssysteme, das ICD-10 (International Classification of Diseases der WHO) und das DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Das DSM-IV kommt in Deutschland vorwiegend in der Forschung zur Anwendung, damit die Diagnosen und damit die Ergebnisse der Forschungsprojekte weltweit vergleichbar sind.

Wenn in dem letzten Jahr mindestens 3 der folgenden Kriterien erfüllt sind, spricht man von einer Alkoholabhängigkeit (nach ICD-10):

  1. Ein starker Wunsch oder Zwang, die Substanz zu konsumieren (= Verlangen oder Craving)
  2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezogen auf den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums
  3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums
  4. Nachweis einer Toleranz (die Menge wird gesteigert, um den gleichen Effekt zu erreichen)
  5. Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums
  6. Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweis eindeutiger schädlicher Folgen

Das typische Einnahmeverhalten kann als charakteristisch für die psychische Abhängigkeit angesehen werden, während die körperliche Abhängigkeit im Wesentlichen über das Entzugssyndrom definiert wird (Freyberger & Stieglitz 2001).

Missbrauch (nach DSM-IV) führt zu einer körperlichen oder seelischen Gesundheitsschädigung und bezieht soziale und rechtliche Folgen mit ein, wobei jedoch eine Abhängigkeit (noch) nicht nachweisbar ist. Schädlicher Gebrauch (nach ICD-10) bezieht sich lediglich auf die körperlichen Folgeschäden des Alkoholkonsums (z.B. alkoholbedingte Lebererkrankungen).

Diese Einteilung ist nach wie vor gebräuchlich, wurde aber in der letzten Ausgabe des DSM-5 aufgehoben. Substanzmissbrauch und –abhängigkeit wurden zu dem Störungsbild „Substanzgebrauchsstörung“ zusammengefasst.

Es wurden 11 Kriterien für die Substanzgebrauchsstörung festgelegt (s. Rumpf & Kiefer 2011):

  1. Wiederholter Konsum, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder zu Hause führt
  2. Wiederholter Konsum in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann
  3. Wiederholter Konsum trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme
  4. Toleranzentwicklung gekennzeichnet durch Dosissteigerung oder verminderte Wirkung
  5. Entzugssymptome oder deren Vermeidung durch Substanzkonsum
  6. Konsum länger oder in größeren Mengen als geplant (Kontrollverlust)
  7. Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche der Kontrolle
  8. Hoher Zeitaufwand für Beschaffung und Konsum der Substanz sowie Erholen von der Wirkung
  9. Aufgabe oder Reduzierung von Aktivitäten zugunsten des Substanzkonsums
  10. Fortgesetzter Gebrauch trotz Kenntnis von körperlichen oder psychischen Problemen
  11. Craving, starkes Verlangen oder Drang die Substanz zu konsumieren.

Eine Substanzgebrauchsstörung wird beim Auftreten von 2 Merkmalen innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums diagnostiziert. Die Schwere der Störung wird anhand der Anzahl der erfüllten Kriterien bestimmt.

  • Vorliegen von 2–3 Kriterien: moderat
  • Vorliegen von 4 oder mehr Kriterien: schwer

Alkoholkonsum im Alter

Lange galt das Forschungsinteresse dem Substanzkonsum der Altersgruppe zwischen 18 und 59 Jahren. Erst 2006 erweiterte der Epidemiologische Suchtsurvey für Deutschland seine Altersobergrenze auf 64 Jahre. Repräsentative Studien zu Substanzkonsum im Alter sind selten. Der Alkoholkonsum nimmt mit steigendem Alter und steigender Morbidität, sowie zunehmender Immobilität ab. In ihrer Langzeitstudie über 10 Jahre konnten Moos et al. (2004) an 1.291 Frauen und Männern, die bei der letzten Befragung zwischen 56 und 75 Jahre alt waren, zeigen, dass grundsätzlich der Alkoholkonsum über den Beobachtungszeitraum bei beiden Geschlechtern in gleicher Weise gesunken ist. Die Prävalenzen für eine Alkoholabhängigkeit sinken im Alter ebenfalls deutlich und liegen bei den über 60-jährigen Frauen bei 0,5 % bis 1 % und bei den über 60-jährigen Männern bei 2 % bis 3 %; die Prävalenzen für einen Alkoholmissbrauch bewegen sich zwischen 10 %-20 % bei Männern und 1 %-10 % bei Frauen (DHS 2013). Allerdings trinken 43% der >75-jährigen regelmäßig Alkohol (Weyerer et al. 2009).

In der Studie »Gesundheit in Deutschland aktuell 2010« (GEDA 2010) vom Robert-Koch-Institut gaben insgesamt 22.050 telefonisch Befragte Auskunft zu ihrem Alkoholkonsum. 18,5 % der weiblichen und 27,0 % der männlichen Befragten ab 65 Jahren weisen einen riskanten Alkoholkonsum nach AUDIT-C auf (AUDIT-C >=4 bzw. AUDIT-C >= 5).

Der nach der Trinkmenge definierte „Riskante Konsum“ steigt mit der Altersklasse an und betrifft 15% der >=65-jährigen. Dieses entspricht ca. 2,5 Mio. Personen in Deutschland. Riskanter Konsum liegt bei Männern 3-4 Mal häufiger vor als bei Frauen, daher sind die Durchschnittswerte für die Bevölkerung irreführend. Riskanter Konsum wurde für 27% der >=65-jährigen Männer und für 12% der >=75-jährigen Männer erhoben (Tab. 2).


Tabelle 2: Prävalenzschätzungen zu Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit sowie riskantem Konsum in den höheren Altersklassen in selektierten Kollektiven in Prozent

Alkohol-
missbrauch oder
-abhängigkeit
nach DSM-IV in%

Riskanter
Konsum
(nach Trinkmenge)
in %

Quelle

> 65 Jahre: Männer

3,0

27,0

Lieb et al. 2008

> 65 Jahre: Frauen

0,5

8,0

Lieb et al. 2008

> 75 Jahre: Männer

-

12,1

Weyerer et al. 2009

> 75 Jahre: Frauen

-

3,6

Weyerer et al. 2009

> 65 Jahre: Patienten in Hausarztpraxen

4,5

-

Poppele 2006

>= 65 Jahre: Krankenhauspatienten

7,0

9,0

Ganry et al. 2000

65-69 Jahre: Krankenhauspatienten

7,2

-

Poppele 2006

70-79 Jahre: Krankenhauspatienten

3,8

-

Poppele 2006

>= 80 Jahre: Krankenhauspatienten

1,7

-

Poppele 2006

>65 Jahre: Kunden Sozial-Psychiatr. Dienste

19,0

-

Poppele 2006

Bewohner von Altersheimen

5,1 - 10,0

-

Khan et al. 2001, Poppele 2006, Lieb et al. 2008



Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit führen zu häufigerer Inanspruchnahme sozialer oder medizinischer Dienste. So sind die Betroffenen (>=65 Jahre) innerhalb von Kollektiven, die ins Krankenhaus eingewiesen werden, in Hausarztpraxen kommen oder von Sozial-Psychiatrischen Diensten betreut werden, überrepräsentiert.

Risikofaktoren des Alkoholkonsums im Alter

Bei Betrachtung der Risikofaktoren für alkoholbedingte Störungen im Alter hat sich nach Lieb et al. (2008) die Unterscheidung in „Early-Onset-Alkoholabhängige“ (EOA, Beginn des problematischen Trinkverhaltens vor dem 60. Lebensjahr) und „Late-Onset-Alkoholabhängige“ (LOA, Beginn des problematischen Trinkens nach dem 60. Lebensjahr) bewährt. Bei den EOA spielen die bekannten Risikofaktoren wie z.B. niedriger sozioökonomischer Status und Trinkverhalten in der Familie eine wichtige Rolle. Dagegen sind die LOA häufiger Frauen mit höherem sozial-ökonomischen Status bei denen auch die sonstigen für EOA bekannten Risikofaktoren nicht zutreffen. Vielmehr sind es häufiger Verlusterlebnisse, Erkrankungen in der Familie oder Veränderungen im sozialen Umfeld, welche einer Verschiebung von riskantem Konsum hin zu Missbrauch oder Abhängigkeit von Alkohol vorausgehen. Die LOA machen ca. ein Drittel der betroffenen Senioren aus.

Nicht zu vernachlässigen ist weiterhin, dass Personen, die regelmäßig Alkohol konsumieren, aufgrund einer veränderten Physiologie im Alter tatsächlich weniger Alkohol vertragen und so bei gleichbleibender Trinkmenge schneller ein körperlicher Schaden oder eine Abhängigkeit von Alkohol eintritt. Die Alkoholverträglichkeit des älteren Organismus ist verringert, da

  • sich das Verhältnis von Muskulatur und Fettgewebe zugunsten des Letzteren verschiebt und der Alkohol sich auf weniger Masse konzentriert.
  • ein geringerer Flüssigkeitsanteil im Körper einen höheren Wirkungsgrad der Substanz nach sich zieht.
  • sich die Aktivität der abbauenden Enzyme verringert und Alkohol und das Abbauprodukt Aldehyd langsamer abgebaut werden.

Die gesundheitlichen Folgen alkoholbedingter Erkrankungen im Alter sind z.T. anders als in jüngeren Jahren (Mukamal et al. 2003, Green et al. 2003, Moore et al. 2003). Insbesondere steigt das Risiko für:

  • Schäden an vielen Organen
  • Tumore
  • Wechselwirkungen mit Medikamenten
  • Stürze und Unfälle
  • psychiatrische Erkrankungen
  • Beeinträchtigung kognitiver Funktionen

Die Symptome alkoholbedingter Erkrankungen im Alter sind charakterisiert durch:

  • Stürze
  • Schwindel
  • Gesichtsröte
  • Tremor
  • Durchfälle
  • Kognitive Defizite
  • Stimmungsschwankungen
  • Interesselosigkeit, Interessenverlust
  • Appetitverlust, Fehlernährung
  • Voralterung

Die sozialen Folgen alkoholbedingter Störungen im Alter sind vor allem soziale Isolation und Einsamkeit. Die Konsequenzen aus sozialen und gesundheitlichen Folgen alkoholbedingter Störungen für das Gesundheitssystem sind ein niedrigeres Heimeintrittsalter (ca. 10 Jahre früher!), ein erhöhter Bedarf an medizinischer Versorgung und hohe Kosten der chronischen Folgeerkrankungen.